Die Breidenbacher Kirmes – Stationen einer Entwicklung

„Kein Fest hat für die Bevölkerung eine so hohe Bedeutung als die Kirmes“, bemerkt Georg Landau 1859/60 zu den Kirmesfesten in Hessen. Dass diese Feststellung noch in heutiger Zeit für Breidenbach Gültigkeit besitzt, ist ganz wesentlich auf das Wirken der Burschenschaft „Reitz“ zurückzuführen.

1908 gegründet, wurde die Vereinigung der ledigen männlichen Dorfjugend nach der Gastwirtschaft benannt, in der sich die Burschen häufig trafen. Jeder Verein braucht seine Symbole, und so ließ man sich eine Fahne anfertigen, die ihre Funktion als äußeres Zeichnen des Zusammenschlusses seit nunmehr 95 Jahren erfüllt. Geselligkeit und Traditionspflege waren die erklärten Vereinsziele, wobei die Ausrichtung der jährlichen Kirmes im Vordergrund stand. Bei der Gründung der Burschenschaft „Reitz“ existierte als Kirmesveranstalter bereits die Burschenschaft „Theophel“. Daher konnte die Breidenbacher Bevölkerung ab 1908 zur Kirmes zwischen zwei Tanzveranstaltungen wählen, und auch zwei Kirmeszüge bewegten sich am Festsonntag durch das Dorf. Nach der kriegsbedingten Unterbrechung von 1914 bis 1918 organisierten beide Burschenschaften das Fest gemeinsam.

Die Nachwirkungen des Krieges ließen die alte Rivalität vorerst ruhen, was ein Artikel im Hinterländer Anzeiger vom 13. September 1919 belegt: „Zu der am Sonntag den 14. und Montag den 15. September stattfindenden Kirmes in Breidenbach bei Gastwirt Meißner ladet freundlich ein: Die Burschenschaft.“ In den 20er Jahren soll es allerdings wieder zwei konkurrierende Veranstaltungsangebote gegeben haben.

Nach 1930 fungierte die Burschenschaft „Reitz“ als alleiniger Festträger. Der zweite Weltkrieg unterbrach erneut die Fest- und Burschenschaftstradition, doch schon 1946 feierte man die erste Nachkriegskirmes. In der Zeit erwuchs die Burschenschaft „Reitz“ jedoch eine neuerliche Kongruenz. Die Burschenschaft „Einigkeit“ hatte sich konstruiert, und wieder erlebte Breidenbach seine Kirmes in doppelter Ausführung. Im Hinterländer Anzeiger vom 14.September 1950 konnte man lesen: „Am kommenden Sonntag feiert unser Dorf seine Kirmes. In den Gastwirtschaften Reitz und Runkel sind beide Burschenschaften eifrig am rüsten.“ (Dem Vernehmen nach fühlte sich die Mehrzahl der Breidenbacher Mädchen damals eher zu den Veranstaltungen der „Einigkeit“ hingezogen, da dort moderne Tanzmusik gespielt wurde. Die Burschenschaft „Reitz“ konnte dies nur missmutig registrieren, denn auf die Blasmusik zur Kirmes wollte man auf keinen Fall verzichten.) Als letztlich standhaftere der beiden Vereinigungen erwies sich die Burschenschaft „Reitz“, die nach Auflösung der „Einigkeit“ die Jubiläumskirmes 1958 gleich in zwei Sälen feierte, wie der Hinterländer Anzeiger am 16. September vermeldete. Trotz bestandener Bewährungsprobe verlor die Burschenschaft mit den ausgehenden 50er Jahren für die Jugendlichen an Anziehungskraft. Wirtschaftliche Konsolidierung und wachsende Mobilität brachen eine Hinwendung zu außerörtlichen Freizeitangeboten mit sich, die das Interesse an Burschenschaft und heimischer Kirmes merklich schwinden ließ. So blieb auch Breidenbach nicht ganz verschont von einer Entwicklung, die vielerorts zur völligen Zerstörung dörflicher Traditionsstrukturen führte und nicht selten das Absterben von Volksfesten zum Resultat hatte.

Erst zum Ende der 60er Jahre begann sich die Burschenschaft wieder zu festigen. Sicherlich trug dazu auch der Umstand bei, dass es einigen „Unentwegten“ mittlerweile gelungen war, das Kirmesprogramm attraktiver zu gestalten. Die Burschenschaft musste mit der Zeit gehen – regelmäßig treffen im Gasthaus sicherten das Bestehen der Gemeinschaft längst nicht mehr. Es galt, neue Aktivitäten zu entwickeln oder frühere wiederzubeleben.

Die Teilnahme an Sportveranstaltungen, gemeinsame Fahrten und Bratpartien, das Eiersammeln am Osterdienstag, neuerdings auch Liederabende sowie Besuche von „Reitz“-Abordnungen auf den Kirmesfesten der umliegenden Orte, gehörten heute zum festen Repertoire, das sich sicher noch erweitern wird.

Auch der Emanzipationsprozess der Frauen ging da der „Männerinstitution Burschenschaft“ nicht spurlos vorbei. Mittlerweile gehören auch die Mädchen mit dem Status assoziierter Mitglieder der Burschenschaft an, und es bleibt abzuwarten, wann es weiblichem Engagement und männlicher Einsicht gelingt, diese „Halbmitgliedschaft“ in eine vollwertige umzuwandeln und so gründeten die Mädchen in 1989 die Mädchenschaft Breidenbach.

Eine weitere Neuerung innerhalb der Vereinsentwicklung dürfen die „Altburschen“ nicht unerwähnt bleiben. Dieser lockere Zusammenschluss ehemaliger Burschenschaftler wurde 1977 ins Leben gerufen. Das Anliegen besteht darin, sowohl untereinander als auch zur Jugend denn Kontakt zu halten. Doch ein Hauch Nostalgie dürfte zweifellos mit im Spiel sein, wenn die „Altburschen“ zur Jubiläumskirmes weiß gekleidet im Festzug mitmarschieren.